Liebe LeserInnen,

in diesem Archiv werden, angefangen im Mai 2024, Texte von Simeon Pressel veröffentlicht, die bisher unbekannt oder schwer zugänglich waren, die wir aber der Allgemeinheit zur Verfügung stellen wollen. Das Archiv wird allmählich angefüllt, mit Aufsätzen, Buchbesprechungen, Briefauszügen und dergleichen.

 

 

BUCHBESPRECHUNG: Mit großer Zukunft — hinter sichGuido Fisch: A k u p u n k t u r .Chinesische Heilkunde als Medizin der Zukunft. Stuttgart 1973.

Deutsche Verlags-Anstalt. 144 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Paperback. 16,80 DM.

 

Die uralten Weistümer der Atlantis glimmen noch nach im alten China. So kann man dort auch auf dem Gebiete der Heilkunde Reste geistvoller Zusammenschau erwarten. Der Schweizer Arzt G. Fisch, der seit zehn Jahren mit diesen Überlieferungen arbeitet, legt in 112 Seiten, reich bebildert, einen anschaulichen Abriß dieses Wissens vor. Immer wieder klagt er, daß die bei uns gängigen Fragmente davon nicht den großen Horizont aufleuchten lassen und dadurch zu formalistischen Patentrezepten reduziert sind - ein Prozeß, den wir ja auch von eigenen Traditionen im Stadium des Erlöschens so gut kennen, und der auch schon im alten China nicht unbekannt war.

Die alt-chinesische Heilkunde geht von großen Zusammenhängen aus, die Makro- und Mikrokosmos, Natur und Mensch in gleicher Weise um fassen. Da ist einmal die große Polarität von »Yin und Yang«, die nur von fern mit weiblich männlich angedeutet werden kann. Der ganze Organismus wird danach eingeteilt, aber eben nicht statisch fixiert, sondern immer relativ zum Vergleichspunkt. So ist das Körperinnere immer Inn (oder Yin, wie es in anderen Darstellungen meist lautet) im Gegensatz zur Oberfläche, aber alle Hohlorgane (z. B. Magen, Darm) sind wieder Yang . . . Ähnlich übergreifend ist die Einteilung aller Erscheinungen nach den »Fünf Elementen« benannt, »Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser«. Je nach der Anordnung wirken sie aufbauend oder zerstörend zusammen oder aufeinander. Nicht nur Körperschichten und Organe, sondern auch Jahreszeiten, Farben, seelische Gefühle, alles entspricht diesen fünf Elementen! Für das Geschehen zwischen Gesundheit und Krankheit ist das Gleichgewicht der verschiedenen Energien (4-5) und ihr Verhältnis zur Außenwelt, z. B. der gefährlichen Wind-Energie bedeutsam. Erst vor diesem gewaltigen Hintergrund baut sich das höchst komplizierte System der Meridiane und Punkte auf, in denen sich jene Energien strömend fortbewegen. Stocken diese Ströme, dann hilft die Akupunkturnadel, den Ausgleich wieder herzustellen.

Dies theoretisch wie praktisch gleich imposante Gebäude kann dem Interessierten viele Anregung geben! Kann es für uns die »Heilkunde der Zukunft« werden? Etwa so, wie manche Ähnliches vom indischen Yoga erwarten? Hier kann der Kenner der anthroposophischen Heilkunde nur mit Nein antworten! Als der römische Götterhimmel verblaßte, holte man fremde Kulte aus aller Welt in dies Vakuum herein; so zieht die entgeistigte Denkprimitivität unserer offiziellen Medizin Heilverfahren ferner Zeiten und Länder herein, ohne Rücksicht, ob sie auch jetzt und hier fruchtbar sind. Bei aller Hochachtung vor der gedanklichen Größe Alt-Chinas, vor den verblüffenden Leistungen der Jahrtausende alten Akupunktur bei Krankheiten, neuerdings (seit 1958) als Narkose-Ersatz, kann nur eine klare Gegenüberstellung mit der aus den tiefsten Kräften Mitteleuropas gewachsenen Heilkunde zeigen, wo wirklich die Zukunft liegt. Ein jedem modernen Denkbedürfnis genügendes einheitliches Weltbild, das Natur und Mensch, Gesundheit und Krankheit, Leib, Seele und Geist gleicherweise durchdringt, das in Evolution und Pädagogik die frühesten Anfänge prophylaktisch erfaßt, eröffnet in der Therapie Möglichkeiten, die denen des Ostens nicht nachstehen. Gerade diese, die anthroposophische Medizin (und Pädagogik) macht aber den Blick frei für die wahren Werte der chinesischen Ûberlieferung. So muß man wünschen, daß viele sich durch die Größe der Vergangenheit anregen lassen, die noch weit größeren Horizonte der Gegenwart und Zukunft zu erobern.

Simeon Pressel

 

BUCHBESPRECHUNG: Heilen durch Rhythmische Massage

Dr. med. Margarete Hauschka: Rhythmische Massage nach Dr. Ita Wegman. Boll/Göppingen 1972. Schule für künstlerische Therapie und Massage. 200 Seiten. Broschiert. 16,50 DM.

 

Nachdem die bekannte Ärztin in über drei Jahrzehnten unzählige Schüler in mehreren Ländern ausgebildet hat, seit 1962 in der von ihr gegründeten Schule, legt sie nun dies anschaulich schöne und vielseitige Büchlein vor. In drei Schritten werden die neuen Gesichtspunkte ausgeführt, die sich für die uralte Kunst der Massage – Hippokrates und der Schwede Ling werden besonders hervorgehoben – aus der Anthroposophie ergeben:

1. In den menschenkundlichen Grundlagen wird die physische Anatomie erweitert zu einer Anschauung der höheren Gliederungen in ihren Beziehungen zu den vier Elementen der Natur. Von hier aus ergibt sich ein vertieftes Verstehen der leiblichen Systeme, z.B. des Muskels, der Haut. - Bei aller Knappheit sind diese ”Erkenntnisgrundlagen” so ins Weite führend, dass sie für jede künstlerische Therapie und somit für jeden Arzt und für jeden am Menschenrätsel Interessierten zum Quellpunkt des Studiums werden können.

2. Nun erst wird auf Entstehung und Wesen der Rhythmischen Massage eingegangen, die die Polaritäten Sal – Sulfur zum heilenden Ausgleich bringt. Rudolf Steiner hat den fundamentalen Unterschied von Arm- und Beinmassage aus der Milz als dem ”Zentrum für die unbewussten Willenszustände” verständlich gemacht, und daraus lassen sich auch die weiteren Wirkungsmöglichkeiten ableiten. Denn Aufbau und Abbau, Leibliches und Geistiges lassen sich für jedes Organ dadurch regulieren, und solches ”Regulieren der rhythmischen Tätigkeit” ist das Wesen der Massage. - Wenn schliesslich die ”Grundformen” beschrieben und durch anschauliche Zeichnungen erläutert werden, so kann das zwar die persönliche Unterweisung von Mensch zu Mensch nicht ersetzen, aber ergänzen.

3. Im letzten, der Praxis gewidmeten Teil werden zunächst die vier Organ-Einreibungen (für Milz, Leber, Nieren und Herz) – ein Kernstück der Rhythmischen Massage – nach Technik und Bedeutung geschildert. Das grundsätzlich Neue zeigt sich hier am stärksten. Es folgt die Behandlung der Wirbelsäule, die aus der embryologischen Entwicklung begründet wird. Schliesslich wird das Vorgehen bei charakteristischen Syndromen, immer wieder menschenkundlich durchleuchtet, dargelegt und gezeigt, wie selbst bei Krebs, bei heilpädagogischen und psychiatrischen Leiden die Rhythmische Massage hilfreich sein kann. Das Ganze wird abgerundet durch eine Betrachtung über die Hand.

Die ausgezeichnete Darstellung der geistigen Grundlagen, verbunden mit grösster Lebensnähe, Lebendigkeit und Anschaulichkeit, machen das Buch wertvoll für jeden, der Wege des Heilens sucht.

Simeon Pressel

 

 

 

 

BUCHBESPRECHUNG: "Pfiffikus Schelmennuss"

Neue Rätsel von Erika Beltle,155 Seiten, D M 8,50 im J. Ch. Mellinger-Verlag Stuttgart. 

Die uralte Kunst des Rätselns scheint der Vergangenheit anzugehören. Wer in die Rätselwelt des älteren oder dieses neuen «Pfiffikus» lustwandelt, kann jedoch eine unserer Zeit entsprechende Blüte dieses Phantasiespieles herankommen sehen. In heiter-spielerischen Umschreibungen, aber völlig eindeutig und exakt, wird man an das Geheimnis gerade so viel herangeführt, daß das Staunen sich entfalten kann. Erika Beltle scheint uns das Verweilen in dieser schöpferischen Phase nicht nur nahelegen, sondern liebenswert machen zu wollen. Das gelingt ihr durch die knappe, rhythmisch-bewegte Form, in der diese «gegenstandlose» Kunst das Drumherum so darstellt, daß der hastige Intellekt einen Augenblick ruhen kann und im Dämmerlicht die tieferen Weisheiten des Lebens oder der Sprache aufglimmen. So mag heilende Ruhe für überanstrengte Gehirne aus den fast 150 Schelmennüssen erwachsen, die der neue Pfiffikus uns im gleich handlichen Oktavbändchen bringt!

Simeon Pressel aus Die Drei, Heft 6, 1965

 

 

BUCHBESPRECHUNG: Wolle und Seide

Der Mensch als Wärmewesen. Bekleidungshygienische Betrachtungen von W. Chr. Simonis

Sozialhygienische Schriftenreihe Band 5. Stuttgart 1972. Verlag Freies Geistesleben. 80 Seiten mit Abbildungen. Broschiert. 10,- DM  

Was bedeutet die Wärme für den Menschen? Wie weit ist seine Kleidung Schmuck oder aber Schutz und Hülle? Wie entwickelte sie sich bei den Alten, besonders bei Griechen und Römern? Nach der Erörterung solcher Fragen führt der bekannte Arzt und Shriftsteller zu einer intimeren Betrachtung des Geschehens zwischen Haut und Kleidung, die über das rein Physikalische ins Organisch-Lebendige und Menschengemäße erweitert wird. Damit ist die Grundlage gegèben, auf die einzelnen Rohstoffe einzugehen, von denen Wolle und Seide nicht nur die ältesten sind, sondern auch dem Menschen die höchste Steigerung seiner Fähigkeiten erlauben. Wenn nun noch die weiteren Rohstoffe: Baumwolle, Flachs, schließlich die synthetischen Fasern beschrieben werden, so erhöht sich aus dem Kontrast der Eigenschaften die Sonderstellung der Tierfasern. Während zum Beispiel ein durchgeschwitztes Leinen- oder Baumwollhemd kalt auf der Haut klebt, nimmt das wollene Hemd bis zu einem Drittel seiner Masse an Flüssigkeit in sich auf und bindet vor allem die Gifte chemisch, bleibt also meist trocken. Leinene Kleider trugen die Priester der Israeliten und des Isiskultes; das begünstigt eine Seelenhaltung, die sich weniger stark mit dem Irdischen verbindet. Das ungemein vielgestaltige Reich der Kunstfasern bietet zwar endlose technische Variationen, führt aber vom eigentlich Menschlichen ab; so fühlen sich besonders Künstler oft im Schöpferischen behindert und ziehen die Seide vor.

Die Zubereitung aller dieser Stoffe wird nicht nur anschaulich geschildert, sondern auch noch mit zwölf guten Fotos deutlich gemacht. In den Schlußkapiteln wird dann das Fazit gezogen und zu einer Fülle »praktischer Hinweise« verarbeitet. So für die Bekleidung von Säugling und Kind, für Kranke, für die Zubereitung des Bettes von der Matratze bis zur Bettwäsche; auch für Menschen mit empfindlicher Haut, die oft Wolle nicht vertragen, wird Rat gegeben. So kann das leicht lesbare Büchlein vielen ein Helfer werden.

Simeon Pressel

Aus Die Drei, Heft 5, 1973: Haut und Kleidung

 

 

BUCHBESPRECHUNG: Der Baunscheidtismus

Dr. Gg. Alfr. Tienes im Hippokrates-Verlag, 56 Seiten, engl. broschiert DM 5.20 

Seit der genial-einfachen Entdeckung des Mechanikers Carl Baunscheidt 1848, bei der die alt-chines. Akupunktur durch einen heimgekehrten Missionar Pate gestanden hatte, ist sein Verfahren in mercurialer Vielfalt angewandt worden. Erst in akademischen Ehren der Univ. Bonn, sowie von vielen Ärzten, dann unter der materialist. Verödung in der Laienmedizin untergeschlüpft, um jetzt wieder durch die Wissenschaft vom Lebendigen neu verstanden zu werden. (Dr. Steiner hat es auch gelegentlich angewandt und das Wesen charakterisiert als ”Verallgemeinerung des lokal. Prozesses”).

Der Verfasser, ein vielseitig erfahrener Natur- und Kneipparzt, sowie Verfechter des biol.-dyn. Landbaues, gibt ein von therapeutischer Begeisterung getragenes Bild des ”Lebenswecker-Verfahrens”, seiner geschichtl. Entstehung, techn. Durchführung, der Beziehung und Kombination mit anderen Therapieformen, vor allem zahlreicher geglückter Kuren.

Man könnte den Grundzug des Baunscheidtismus kurz so umreissen: Nerven- und Bluttätigkeit des Hautorgans werden mächtig angefeuert, ein neuer Ansatz zur Reaktion wird dem Körper gegeben. In der Hand eines Arztes, der seinen Kranken gut kennt, kann dies schlichte Gerät segensreich wirken.

Das Büchlein bringt auf 56 Seiten soviel Anregung zum Denken und Heilen, dass man es bei vielen, vielleicht ausweglos scheinenden Problemen zu Rate ziehen kann. In einer Zeit, die von der Zurückdrängung der Ich-Tätigkeit im Entzündlichen (Penicillin) gezeichnet ist, verdient ein Verfahren des umgekehrten Weges besondere Beachtung. S.P.

Beiträge Erweiterung der Heilkunst, 1955, Heft 5/6

Anmerkung Februar 2025: Siehe auch www.baunscheidtoel.de

 

 

BERICHT SOMMERTAGUNG IN SCHOTTLAND

”Sprachstörungen im Kindesalter” mit Dr. Karl König, Camphill vom 26.7. bis 3.8. 1953

Beiträge Erweiterung der Heilkunst, 1954, Heft ¾

Simeon Pressel 

Zu dieser Tagung kamen rund 80 Teilnehmer aus Mittel- und Nordeuropa, vorwiegend Pädagogen und Heilpädagogen, und einige Ärzte.

Manche hatten schon die Zusammenkünfte der vergangenen Jahre miterlebt, deren letzte sich mit den Psychosen des Kindesalters beschäftigte. Dadurchgenen Jahre miterlebt, konnte die Arbeit, auf den früheren Erlebnissen aufbauend, sich zu einem wahren Sturmlauf gemeinsamen Erkennens steigern, von dessen Fülle hier nur einige Ergebnisse angedeutet werden können.

In der Abgeschiedenheit der schottischen Heime, idyllischen Herrensitzen mit ausgedehnten Parkwäldern, konnte man sich ungeteilt den klinischen Vorführungen und Besprechungen des Vormittags, den praktischen Ûbungen des Nachmittags (Sprachgestaltung und Heileurhythmie) und den Abendvorträgen hingeben. Zu letzteren gesellten sich aus der Umgebung (Heime, Aberdeen) noch zirka 120 Zuhörer, so dass die Kapelle in Newton Dee sie kaum fassen konnte.

Neben Dr. König, der den Morgen- und Abendvortrag hielt, wirkten mit: Dr. Ernst und Frau für Sprachgestaltung (Dornach) und Frl. Lissau für Heileurhythmie (Camphill).

Ein grosses Bild stand am Anfang, und bewährte sich als Hintergrund für den weiteren Verlauf der Tagung:

Die Menschen, eingetaucht bis zum Kehlkopf in den Ocean der Bewegungs- und Sprachkräfte. Aus seiner unbewussten Tiefe strömen sie nach oben und werden durch das Sprachorgan als Worte in die Aussenwelt geboren. Auf der Oberfläche dieses Meeres fahren sie nun wie Schiffe hin und her, zwischen Einzelmenschen, und Gruppen, Stämmen und Völkern.

Das Organ dieser Geburt, der Kehlkopf, wurde zum Mittelpunkt vieler Betrachtungen… Ein beweglich-morphologisches Verständnis dieser ”Blüte des Bewegungsorganismus” gewinnt man durch Metamorphosieren aus dem Kopf, dem Rumpf (ohne Kopf) und schliesslich dem Zusammenschauen beider Denkübungen.

Auch die Daten der neuesten Hirnanatomie wurden verwertet: Eine Zeichnung der motorischen Rindenfelder zeigte die Zuordnungen vom Fuss bis zum Kehlkopf in der einen Richtung, den Kopf selbst aber umgeklehrt, wie vom Kehlkopf gespiegelt!

Brocas Entdeckung des Sprachzentrums wurde eingehend behandelt.

Das Schwierigste ist, sich real vorzustellen, wie die unbewussten Kräfte von unten in den Kehlkopf heraufwirken. Der Anatom sieht ein allmähliches Kleiner- und Feinerwerden von grossen Skelettmuskeln, über die verwirrende Vielfalt der Halsmuskulatur, bis zur unvorstellbaren Präzision am Kehlkopf.

Wie so oft, half hier das Schicksal, indem es ein Urphänomen bescherte: Vor neun Jahren kamen zwei zur gleichen Stunde geborene Kinder zur Aufnahme, von denen eines taubstumm, das andere gelähmt war. An diesen Beiden ging Dr. König die Zusammenghörigkeit von Bewegung und Sprache erneut auf. -

Bewegungen kennen wir in drei Stufen: Bewegung der Gliedmassen, der Atmung, der Sprache. Wo äussere Bewegung zur Ruhe kommt, auch ausserhalb des Menschen, tritt der Ton auf. Indem von oben Bewusstsein gestaltend hineinströmt, entsteht Sprache. ”Licht von oben, Schwere von unten.” So ist sie ein Erbgebnis des ganzen Menschen, besonders seines Bewegungsorganismus.

Vom oberen Menschen ist der Sinnesprozess des Hörens besonders eng mit der Sprache verbunden. Man kann das in der Lemniskate darstellen: Eine obere Schleife des Hörens und eine untere der Bewegung begegnen sich im Kehlkopf als Schnittpunkt.

Hier sei erinnert an die Darstellungen Dr. Steiners über den Zusammenhang von Hören und Bewegung (siehe ”Meditativ erarbeitete Menschenkunde”, 3. Vortrag).

Jeder Teil kann Ausgang einer Störung sein. Die diagnostische Erkenntnis muss sehr auf das Individuelle jedes Einzelfalles achten.

Zuerst wurden Krankheiten des Bewegunsorganismus gezeigt. Von den vier Hauptgruppen der athetotischen, rigiden, schlaffen und spastischen Lähmung wurden je einige Kinder vorgestellt.

Wie verschieden waren die Sprechversuche! Entsprechend dieser verschieden entwickelten Kommunikation der ganze Bewusstseinszustand und das Innenleben dieser Kinder. Das Bild wurde ergänzt durch Hefte, Malereien und Handarbeiten.

Schliesslich charakterisierte Dr. König das Wesen dieser vier Gruppen als Verzerrung innerhalb der drei Stufen im Bewegungsorganismus. Das unbewusst fliessende Bewegungsspiel der Athetose z.B. rückt unserem Verständnis näher, wenn wir sie als in die Glieder gerutschte Atmung betrachten. So hatte man ein intimes Miterleben des Bewegungsgeschehens bei diesen markanten Störungen und sah greifbar das Ineinanderwirken der Gliedmassenaktivität bis in die Sprache.

Wendet man die gleiche Beobachtungsintensität lauschend in die innere Bewegung des einzelnen Lautes, so kann man Verwandtschaften zwischen beiden Gebieten vertehen lernen. Sie wurden von Dr. König in einer vielseitig verwendbaren Konsonantentabelle anschaulich gemacht.

Am dritten und vierten Tage folgte die Betrachtung der Hörgestörten.

Warum sprechen die Tauben nicht? Hier ist ein tieferes Eingehen auf die ganze Erlebnisart des Taubstummen notwendig. Wer Experimente an der lärmschluckenden Wand kennt, kann eine Ahnung von der lautlosen Isoliertheit dieser Menschen haben. Nimmt man weitere Beobachtungen hinzu: Ihre scheue Wildheit (wenige Ausnahmen sind die meist blonden Inaktiven), bis zum rastlosen Zerstörungstrieb, ihre Furcht, die harten Zeichnungen, so kann man zusammenfassen: Sie klammern sich ängstlich an dem Stummfilm des Sehraums fest. Dieser ist aber nicht so objektiv wie der Hörraum, nicht seelenwarm, bringt keine so intime Verbindung mit dem Nächsten.

Eine jahrelange eurhythmisch-musikalische Ûbungsbehandlung überwindet die Unzugänglichkeit und bringt schliesslich manche dieser Kinder zum Hören und Sprechen. Die intellektuelle Entwicklung ist aber oft weniger schnell. Z.B.:

Joseph kann zwar leiblich hören, aber sein Verständnis stösst immer wieder an Mauern, bei denen er dann – wie früher während der Taubheit – mit Wut reagiert.

Oder die kleine Mabel aus den Slums, die sogar deshalb lange fälschlich in einer Taubstummenanstalt gehalten wurde, weil ohne verständnisvolle Betreuung ihre Seele nicht hörte. Heute spricht sie zwar gut nach, aber sie leidet an ”akustischer Amnesie”, ihr Wortsinn ist taub.

Bei Knaben wurde diese Form noch nicht beobachtet. Dagegen leidet ein William an ”optischer Amnesie”, d.h. er verharrt in unzugänglicher Stummheit, weil er taub ist für alles, auch für Gesten, da er jeden Eindruck sofort ”wieder vergisst”.

Wenn Dr. König postulierte: Keine Lähmung ohne Sprachstörung, so schienen die nun folgenden Kinder (cerebell. Ataxie) dem zu widersprechen, denn sie plauderten recht munter und unbekümmert. Einer sang sogar etwas vor. Während sich unter den Sprachgehemmten der letzten Tage viele befanden, die durch gleichzeitige Bewegung die Sprache besser in Gang brachten, schien hier der untere Bewegungstrom ganz eingefroren und alles nur zum Mund herauszufliessen. ”Um den Bewegungsübungen zu entgehen, deckt er den Lehrer mit einem Plauderstrom zu”, heisst es von Barry. Eine genaue Analyse dieses Geplauders aber, die wie üblich erst am andern Tage angestellt wurde, wies den unterbrochenen Fluss der Sprachmelodie, gestörtes Gleichgewicht der Satzteile nach.

Den Abschluss bildeten solche Kinder, deren Sprachstörung aus anderen Bereichen stammt. Blinde, wie der augenlos geborene Timmy, haben eine hohe, gleichsam die Erde nicht erreichende Stimme, während die Bewegungen wie strichhaft von oben nach unten gehen, die Finger, als vorwiegende Sinneswerkzeuge zart bleiben.

Bei präpsychotischen Kindern, dem Thema des Vorjahres, ist weder die Bewegung, noch das Verhältnis Licht zu Schwere gestört, aber sie haben meist keine Beziehung zum Mitmenschen, sind wie seelisch-geistig abgeschnitten. Viele von ihnen können zwar sprechen, tun dies aber vielleicht nur, wenn sie allein sind: da für sie keine anderen Wesen existieren, können sie auch keine Wortschiffe zu ihnen senden.

Die kleine Fran galt als ”angeborener Schwachsinn”, ein Begriff, der von uns scharf abgelehnt werden muss; auch in diesem Fall entpuppte sich das Mädchen als durchaus bildungsfähig, sobald man es aus seiner vernachlässigten Seeleneinsamkeit herauspflegte.

Das tiefer Erleben der Teilnehmer kam ganz besonders am letzten Tage zum Vorschein. Einer nach dem anderen sprach aus übervollem Herzen und zeigte, was diese Zusammenkunft in ihm zum Klingen gebracht hatte.

Die vielfach geäusserten Dankesworte fasste Dr. König schliesslich in einem grossen Dank zusammen, den wir alle den kranken Kindern schulden, die durch ihr Schicksalsopfer uns so tiefen Einblick in das Wesen der Sprache ermöglichen.

 

 

DIE HAUT, DIE LEBENDIGE, DREIGLIEDRIGE HÜLLE DES MENSCHEN

Niederschrift eines Vortrages in Kassel, 13.11.1976, Verfasser unbekannt 

Die Haut ist das grösste Organ, das vordergründigste, das umfassendste; es ist verflochten mit vielen Teilen. Die Haut ist ein umgrenzendes, schützendes und andererseits ein nach aussen verbindendes Organ. Sie ist das Organ der Seele: Erblassen, Erröten, Kaltwerden, Gänsehaut zeigt sich in ihr. Die Haut ist ein Mondenorgan, ein sich ewig erneuerndes Organ - ”Abnutzungserscheinungen” kann es daher nicht geben, solange sie mit Leben erfüllt ist. Im Gegensatz dazu steht das Gehirn (Caturn), das sich nicht erneuert. Die Haut ist ein Organ der Atmung; der Mensch muss streben, wenn 1/3 seiner Hautoberfläche nicht erhalten ist (Verbrennung, Anstrich mit luftundurchlässiger Substanz – der bronzierte Held).

Wie überall im Menschen und im Weltgeschehen ist auch die Haut dreigegliedert in Stoffwechseltätigkeit, Kreislauf-Rhythmusgebiet und Nerven-Sinnesgebiet. Es sind drei Schichten: Epidermis, Lederhaut und Unterhautgewebe.

Die äusserste Schicht – Epidermis – hat kein Blut, sie ist besonders empfindlich und dünn. Wie die vielen anderen Teile des Menschen, die kein Blut enthalten, ist auch sie darauf angewiesen, dass die Früchte des Blutes an sie herangetragen werden. Der oberste Teil der Haut ist beständig am Sterben.

Dort wo Sterben ist, ist das Ich am intensivsten. Es herrscht starke Ich-Tätigkeit, Bewusstsein vor. Unmittelbar unter den abgestorbenen Zellen ist Leuchten, das durchscheint – ähnlich dem leuchtenden Herbstlaub. Die Pigmentbildung findet sich ebenfalls in der Epidermis in der Nähe der Keimschicht. Die Sonne scheint nur zum Teil in die Haut hinein. Das UV-Licht kommt nur bis zur Keimschicht. Durch die Ozonschicht wird die Erde vor zuviel UV-Licht geschützt. Ist aber zuwenig UV-Licht da, tritt beim Menschen in der Jugend Rachitis auf. Denn durch das UV-Licht wird der Mensch befähigt feste Knochen zu bilden. Die anderen Teile des Sonnenlichtes, insbesondere das Rotlicht – die Wärme – treten tiefer ein.

Der Mensch ist selbst Lichtwesen, er erzeugt Licht. An ihn herangetragenes Licht muss er wie alles, was an ihn herantritt, umwandeln, damit es ihm nicht schädlich wird. Der Mensch erzeugt Licht in der Gegend der Niere. Dieses Licht muss man sauber vom anderen Licht trennen. Ist zuwenig Innenlicht vorhanden, entstehen TB Bazillen, die am Licht sterben. Bei eigener Tätigkeit verträgt der Mensch vieles besser, z.B. das Sonnenbaden.

Die Lederhaut ist zäh und reissfest. Sie enthält Blut. Bei manchen Krankheiten ist es heilsam ein Zuviel an Blut nach aussen zu lenken, etwa durch Bäder (Kopfweh, Magenleiden). Aber auch von sich aus reagiert die Haut mit wechselnd intensiver Durchblutung, z.B. bei Kälte. Ca ein Drittel der Blutmenge kann der Mensch in seiner Haut unterbringen. Die Lederhaut ist zwischen 2 mm und 3 cm dick. In dieser Schicht liegen viele glatte Muskeln, die nicht durch den Menschen bewusst gesteuert werden können z. B. Gänsehaut. Das Inkarnat entsteht in der Lederhaut, wobei das Blut unterschiedlich stark durchschimmert.

Das Unterhautgewebe ist mehrere cm stark. Dazu gehören Blut, Fettgewebe, Drüsen, Muskelgewebe. Haare und Nägel haben dort ihre Wurzel, die Schweissdrüsen ihren Sitz.

Damit die blutführenden Schichten der Keimschicht das Blut recht nahe bringen können, bilden sich durchblutete Papillen, bei stärkeren Rauchern verkrampfen sich die Kapillargefässe. Im Unterhautgewebe sind die Verdauungskräfte stark (Stoffwechselgebiet). DDT lagert sich dort vielfach ab. Silbervergiftungen, Bleivergiftungen finden dort statt. Im Unterhautgewebe werden wichtige Substanzen gebildet, so das Vitamin D aus Cholesterin.

Epidermis – Tod/Leben – Nervensinnesgebiet

Lederhaut – Träumen – Kreislaufrhythmusgebiet

Unterhautgewebe – Schlafensteil - Stoffwechselgebiet

Gerade im letzten Teil gehen die entscheidenden Prozesse vor sich.

Die grösseren Zusammenhänge:

Der erste Formungsprozess beim Menschen ist die Einstülpung der Haut und damit eine Trennung von Aussenhaut und Innenhaut. Es bilden sich Ur-mund und Ur-after.

Die Innenhaut ist Schleimhaut. Im Mund ist sie der Aussenhaut noch sehr ähnlich. Erst dort, wo wir das Essen ”vergessen”, es unserer Willkür entzogen ist, ist Schleimhaut. Dort macht sich der Mensch das Einverleibte ganz zu eigen. Hier ist man ganz bei sich. Ûber die Speisen, ”Speisen aus aller Herren Länder”, hat die Innenhaut (Niere, Darm…) Kontakt mit der Aussenwelt. Man kann das Einverleibte aber nicht bei sich behalten, man entäussert sich seiner wieder, verbindet sich dadurch wiederum mit der Welt. Gerade über den Stoffwechselorganismus ist der Mensch mit der Welt verbunden. Im Gesicht spiegeln sich die Vorgänge der Verdauung, insbesondere auch die Durchblutung des Rückengewebes.

Die Lederhaut hat intensive Beziehung zum Herzen über das Blutsystem. Das Herz ist absoluter Innenraum. Diese Hürde zu überspringen ist absolut notwendig. Das Blut benötigt Luft. Die Lunge hat ihre Wurzeln in der Atmosphäre, so wie die Verdauungsorgane ihre Wurzeln im Acker haben. Die Luft ist für den Menschen wichtiger als Arm und Bein.

Die Oberhaut har intensive Verbindung zum Rückenmark, das sich an seinem vorderen Ende zum Gehirn entwickelt hat. Die Sinnesorgane entwickeln sich daraus: ein Aufeinanderzuwachsen von Teilen der Oberhaut und des Gehirns. Die Oberhaut hat enge Beziehung zum Bewusstsein. (An dieser Stelle zitiert Pressel den Spruch der Woche.)

Praktische Folgerungen:

Die Haut kann zu stark sein oder auch zu wenig abschliessen, undicht sein: Ekzeme, Allergien, Sonnenbrand. Wenn die Lymphe herausgedrückt wird, wenn die Aussenhaut undicht ist, muss die Innnhaut aktiviert werden durch ein Anregen der Darmtätigkeit, des Stoffwechsels (Abführen, Hungern). Ist die Haut zu dick, zu dicht, muss sie belebt werden. Für geistige Tätigkeit ist zuviel Waschen z. B. nicht gut. Trockenbürsten ist gut. Nicht immer vom Scheitel bis zur Sohle, sondern verteilt über eine Woche. Die Muskeln sind bei denen, deren Haut zu dicht ist, leicht vergiftet zur Wohlstandskrankheit ”Faulheit”. Kinder, Hunde haben einen natürlichen Bewegungsdrang. Also die Haut beleben, deren Prozesse beleben. Der Brennesselschmerz ist gegenüber rheumatischen Schmerzen geradezu eine Wohltat. Meerrettich gerieben und aufgelegt als Teelöffelportion im Taschentuch an der Schmerzstelle für kurze Zeit, danach während der Nacht unter dem Fuss. Hahnenfuss, Buschwindröschen, Seidelbast sind milde Hautaufschliessungsmittel. Im feuchten Tuch z. B. um den Arm bei Verletzungen der Hand fördern sie die Durchblutung und damit den Heilungsprozess. R. Steiner: Bringt das Ich an die Verletzung. Bei Fieber früh morgens nach dem Trockenreiben den Rücken feucht abklatschen. Bei inneren Krankheiten kann man durch heftiges Tun von aussen das Leiden umwandeln; die Haut übernimmt das Leiden, z. B. wenn man bei einer Depression Meerrettichkompressen auf den Rücken legt und alle fünf Minuten weiterrückt den ganzen Rücken hinunter. Im verodneten Fall gab es eine total offene Fläche, die Depression aber war weg.

Menschen- und hautfreundliche Stoffe/Bekleidung: Wolle nimmt alles Schlechte auf – das Schaf als Opfertier.

Jedes Wissen, das nicht zur Tat wird, wird Gift. Nur das, was der Mensch tut, wird ihm heilsam.

Nicht so sehr ein Ûberviel, ein Zuviel, als vielmehr die Bewegung, auch die Geistige, ist heilsam.

 

 

ZEITUNGSBERICHT aus 1955: Das Geisteswort der Mitte

Dr. Pressel – Stuttgart sprach vor den Hörern der Volkshochschule Urach [der Name der Zeitung konnte nicht ermittelt werden]

Den von der Uracher Volkshochschule auf Samstagabend im Bahnhotel angesetzten Vortrag über ”Das Geisteswort der Mitte zwischen Ost und West” übernahm wegen einer plötzlichen Erkrankung Dr. Hahns sein Kollege von der Freien Waldorfschule Stuttgart, Schularzt Dr. Pressel. Vor einem kleinen Kreis von VHS-Freunden umriss Dr. Pressel ”das Geisteswort der Mitte” als die im Jahre 1920 von Rudolf Steiner auf dem Wiener Kongress ausgesprochene Botschaft. So wie jeder Mensch an der Lösung und Gestaltung des Chaos von Problemen arbeiten kann und muss, trägt der Mensch der Mitte diesen Auftrag als die grösste Aufgabe in sich: den Ausgleich zwischen West und Ost herbeizuführen. Im Jahre 1945, in dem West und Ost über der Mitte zusammenschlugen und es somit keine Mitte mehr gab, habe bei der anfänglichen Verbrüderung der beiden gegensätzlichen Pole niemand daran gedacht, dass beide kurze Zeit später in bitterste Feindschaft geraten würden.

Seine Erlebnisse in russischer Kriegsgefangenschaft als Charakteristikum für den Osten überhaupt auswertend, sprach Dr. Pressel eingehend über das Lagerleben, bei dem sich in Zeiten härtester Entbehrung – im Jahre 1946 brach in Russland eine Hungersnot aus – eine Pflege des Menschlichen ergab, die ihn als anfänglich Kranken und dann als Arzt tiefe Rückschlüsse auf das menschliche Leben im allgemeinen ziehen liess, und zwar in dem Sinne, ”dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt”. Die Russen an sich – in seiner dreijährigen Gefangenschaft habe er überhaupt keinen Kommunisten getroffen – verdienten es, von den Deutschen ebenso geachtet und geschätzt zu werden, wie die Russen Deutschland hochachten: Die in Russland aufgespeicherten gewaltigen Willens- und Naturkräfte strebten eine Verbindung mit der Geistesklarheit der Mitte an.

Auch der Westen – um zum Gegenpol zu kommen – gäbe keine absolute Freiheit. Ihm fehle der seelische Reichtum, der Russland eigen ist. Die Schotten seien z.B. schon viel lockerer im Gemüt als die Deutschen, und selbst in London läge eine gewisse Heiterkeit über dem Alltag. Von kleinen Ausnahmen abgesehen sei der Westen überspitzt und kalt wie – um einen Vergleich mit dem menschlichen Organismus zu gebrauchen – der Kopf im Gegensatz zur Leber, die mit ihren 41 Grad den Osten darstelle; die ausgleichende Mitte (also wir) seien Herz und Lunge. Diese Dreigliederung des Menschen sei auf die gesamte Menschheit anzuwenden. Als Naturgegebenheit müsse auch das deutsche Volk den Ausgleich und damit die Harmonie durch die Beseitigung des Zündstoffes zwischen West und Ost anstreben.

Bei den anschliessend von den Zuhörern gestellten Fragen, das Thema und die Waldorfschule an sich betreffend, gab Dr. Pressel interessante Aufschlüsse, so auch in bezug auf seine Arbeit als Schularzt. So würden z.B. an bestimmetn Tagen (bei Erdbeben und Atomversuchen) die Kinder über allerlei Schmerzen klagen. - Die Anwesenden bedankten sich für den tiefschürfenden Vortrag mit herzlichem Applaus.

 

 

ZUM GEDENKEN AN DR. MED. SIMEON PRESSEL

von Dr. Bruno Endlich

Verlieren kann der Mensch ja nur, was ihn vom Geiste trennt. Rudolf Steiner 

Am 14. Oktober 1980 verstarb in Stuttgart der Arzt Dr. med. Simeon Johannes Pressel, nachdem er noch im Juni im Kreise seiner Patienten und Freunde innerlich bewegt den 75. Geburtstag begehen konnte.

Dr. Pressel hatte sich von Anfang an mit den Zielen des Arbeitskreises für Bekleidung ganz besonders verbundern gefühlt. Der Umgang mit den Elementen, insbesondere mit Wärme und Licht war ihm zur bewährten therapeutischen Praxis geworden. Dabei konnte er sich auf vielfältige Erfahrungen stützen, die u.a. er als Lagerarzt in der Kriegsgefangenschaft unter einfachsten Bedingungen gewonnen hatte. Die Wärme- und Lichtkraft der Sonne, wie sie sich einem Stein mitteilte, die wärmende wollene Decke – sie hatten sich bei vielen Patienten bewährt und ihnen Linderung ihrer Leiden gebracht. Das Wort des Paracelsus: ”Der höchste Grad der Arznei ist die Liebe” war für jeden Patienten spürbar, der dieser starke innere Kräfte verströmenden Arztpersönlichkeit je begegnet ist. Seine Hände waren begnadet und wirkten wärmespendend und heilend durch hilfreiche Massagen, auf die er sich meisterhaft verstand.

Auf der letzten grossen Bekleidungstagung in Pforzheim sprach Dr. Pressel im Zusammenhang mit den Hüllen des Menschen so bewegend auch von der Teilnahme der mit uns und unseren wichtigen Erdenaufgaben verbundenen Verstorbenen, dass schon da sein Vermächtnis spürbar wurde.

Wir fühlen uns durch sein Beispiel ermuntert, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen und die den Menschen umgebenden natürlichen Hüllen durchlässig zu erhalten für die kosmischen Einflüsse von Licht und Wärme.

Als wir auf dem Dornhaldenfriedhof von der sterblichen Hülle unseres lieben Freundes Abschied nahmen, entfalteten in Regen und Kälte widrige Naturgewalten ihr elementarisches Spiel. Doch die in engem Rund um das offene Grab sich zusammenschliessenden Menschen, die Kollegen, Patienten und Freunde von Simeon Pressel, liessen unmittelbar jene herzkräftige menschliche Hülle erlebbar werden, die uns allein eine Bemeisterung der Aufgaben der nächsten Zukunft aus der Herzenswärmekraft des Auferstandenen möglich macht.

Dankbar dürfen wir des Erdenwerkes des Verstorbenen gedenken und uns auch in Zukunft mit seinem an unseren Zielen teilnehmenden Wesen verbunden fühlen.

 

 

 

 SIMEON JOHANNES PRESSEL

 Geboren am 15. Juni 1905 in Hilpertsau

Gestorben am 14. Oktober 1980 in Stuttgart

 von Gerard Klockenbring [Priester der Christengemeinschaft, der Simeon Pressel die letzte Ölung gab]

[leicht überarbeitet]

 

Er hatte sich am Boden betten lassen; da waren die Schmerzen erträglicher. Als er gefragt wurde, ob er das Sakrament empfangen wollte, richtete er sich auf, liess sich in das Nebenzimmer geleiten, setzte sich hoch aufrecht auf den Ecksessel und nahm die Worte auf mit offenen Armen. Dann lief er wieder hinüber und kniete nieder, ganz still. Das ist Simeon Pressel. Seine tiefe Liebe zur Erde, seine unerbittliche Geradheit und Entschlossenheit, seine totale Schicksalsbejahung und Weltfrömmigkeit. So ging er auf die Schwelle zu: Nur das Johannes-Evangelium hören, aufnehmen, wollte er noch, es war die einzige Stütze.

 

Er war in Hilpertsau im Schwarzwald, als Sohn eines Holzkaufmannes, geboren und durfte die drei ersten Lebensjahre dort verbringen, was ihn zeitlebens mit Dankbarkeit erfüllte, um so bewusster, als die Tätigkeit seines Vaters ihm dann aber 33 Umzüge aufnötigte.

So kam er erst mit neun Jahren in die Schule, wo er, dank seiner ganz unverbrauchten Kräfte, sehr leicht und schnell aufholen konnte. Elfjährig in eine kleine Privatschule in Darmstadt, die Stein-Fichte-Schule, aufgenommen, genoss er da einen freiheitlichen Unterricht, den er später als einen ”Vorläufer” der Waldorfpädagogik empfinden konnte. Dort wurde er auch mitsamt seinen Schwestern evangelisch getauft. Oberschule, Gymnasium führten ihn 17-jährig zum glänzenden Abitur. Da seine Konstitution eher schwach war, unterzog er sich einer Kur, wo er

massiert wurde. Dies beeindruckte ihn so, dass er, nach Hause gekommen, seinen Vater zu massieren begann. Seine besondere Begabung auf diesem Felde hatte sich ihm in dieser Weise geoffenbart.

Nach einem Semester Chemie entschloss er sich, Medizin zu studieren. München, Würzburg, Kiel und Heidelberg waren seine Stationen, bis er in Jena von 1927 – 1929 an der Klinik als Assistenzarzt arbeitete. Dort lernet er seine erste Frau kennen, die ebenfalls Medizin studierte.

Er begann 1930 die erste Hauspraxis in Bayreuth, wo er 1935 heiratete. Zwei Kinder wurden 1936 und 1938 geboren, die er mit innigster Liebe umgab. Besonders das Töchterchen, das wegen eines schweren Impfschadens weder sitzen noch greifen lernte, das nur lachen und weinen und mit grossen überklaren Augen in die Welt blicken konnte.

Er entwickelte überhaupt eine besondere Zuneigung zu Kindern und später auch zu behinderten Menschen. Sein bewegliches, stets schöpferisches Wesen betätigte sich in der Musik (Geige und Gesang) und im Sport: Schwimmen und Skilaufen. Doch suchte er auch in seinem Beruf nach neuen Wegen. So entdeckte er die Homöopathie, die Naturheilkunde und schliesslich die anthroposophische Medizin [Die Naturheilkunde war ihm bereits seit Kindesbeinen an vertraut, die Homöopathie kannte er aus der Assistenzzeit am Homöopathischen  Krankenhaus in Stuttgart. Hier im Text ist wohl die Rede von seiner ärztlichen Herangehenweise mit diesen Methoden. Lediglich die anthroposophische Medizin war ihm gänzlich neu]. Seltsamerweise entdeckte immer seine Frau die entsprechende neue Methode, als er im Begriff war, die nächste zu finden.

1939 wurde er eingezogen und erst 1945 geriet er in Gefangenschaft, einen Monat vor Kriegsende, und kam dann nach Russland. Dort erfuhr er ein Jahr später, dass seine ganze Familie im selben Monat April 1945 beim einzigen Bombenangriff auf Bayreuth im Bunker [im ”bombensicheren” Keller des Nachbarhauses] ums Leben gekommen war. Er, der gelernt hatte, ständig vor dem Tod zu stehen, fühlte die Seinen mehr in Sicherheit, als wenn sie den Schrecknissen des Lebens ausgeliefert geblieben wären. Er besass überhaupt eine Positivität und Ergebenheit, die an das Unvorstellbare grenzte. Sie half ihm auch immer da, wo alles verloren zu sein schien, den Ausweg zu finden. So lernte er Russisch und konnte vieles vermitteln. Es wurde ein Chor gebildet, Massagen eingerichtet, Soldaten dafür ausgebildet. Den Tabak, den er nicht rauchte, konnte er gegen eine Geige von einem Russen tauschen. Als dieser den Tabak zuende gekaut hatte, verlangte er die Geige zurück, und dieses Spiel wiederholte sich dreimal. So konnte musiziert werden.

Eine schwere Nephritis befiel ihn. Als die Wasserschwellungen das Zwerchfell erreichten und die Atmung hemmten, dachte er plötzlich an Eurythmie und begann die wenigen Erinnerungen, die er davon hatte, in die Tat umzusetzen. Nach kurzer Zeit ging das Wasser zurück und die Heilung trat ein. Während dieser ganzen Zeit – etwa drei Jahre – hatte er unendliche Entbehrungen, Kälte, Sterbefälle, Hunger, Erschöpfung zu erleben – doch keine Grausamkeiten, auch nicht in seiner Umgebung. Etwas wie ein Segen ging mit, durch alles hindurch, in Form eines Köfferchens, das die ihm wichtigen Bücher und zwei schwarze Wachstuchhefte mit handgeschriebenen Sprüchen Rudolf Steiners enthielt. Diese kostbare Habe wurde ihm immer gelassen. Die russischen Zensurstempel zieren sie heute noch. Diesen beiden Heften ist er auch bis zu seinem Lebensende treu geblieben und hat sie immer benutzt.

Bei seiner Entlassung fühlte er sich gefestigt, sodass er ohne Erholungspause seinem Impuls aus Russland folgte: ”Wenn ich von hier wieder nach Hause komme, will ich mit der Jugend aufbauen.” So ging er unmittelbar nach Stuttgart an die Waldorfschule Uhlandshöhe als Schularzt [Erst schloss er seinen Wohnsitz in Bayreuth ab, was aus juristischen Gründen mehrere Jahre in Anspruch nahm, in dieser Zeit pendelte er zunächst zur Uhlandshöhe, mit einem Motorrad]. Von 1950 bis 1955 blieb er an dieser für seine zarte Natur schweren Stelle. Er wurde auch innerlich schwer geprüft durch den unglücklichen Verlauf seiner zweiten Ehe. So fuhr er 1955 bis 1957 nach Skandinavien, wo er als reisender Schul- und Institutions-Arzt ein ständig wechselndes Leben führte. Auch hier erlernte er, so gut es ging, die Sprache und hielt auch Kurse und Vorträge. Er lernte Norwegen, Schweden und Dänemark kennen und lieben.

 

1957 wurde eine neue Praxis in Stuttgart begonnen. Weihnachten 1958 fand die Eheschliessung mit Lies van Schouwen statt, die aus Holland nach Stuttgart gekommen war, um die Hauschka-Massage [heute Rhythmische Massage] zu erlernen. Vier Kinder, eine Sohn und drei Töchter kamen zu dem Ehepaar, das sich 1962 in Stuttgart-Sonnenberg ansiedelte. Die Heilpädagogik wurde ein wichtiger Durchgang (zB Welzheim, Lauffemühle bei Stuttgart). Doch die Praxis und die Massage entwickelten sich reichlich. Es wurden Kurse eingerichtet. Zwei- bis dreimal jährlich wiederholten sie sich seit 1974 in Stuttgart und bei Bad Tölz [der erste war in Holland]. Es fand noch eine bedeutsame Begegnung zwischen 1970-71 statt mit Frau Werbeck-Svärdström. Ihre Gesangsmethode eröffnete ganz neue Horizonte.

Allmählich rundete sich das Leben in seiner grossen Fülle: Die reale Wirkung der Planetenkräfte im Heilprozess, die umittelbare Mitbeteiligung der Lebenskräfte, der Wärme, des Lichtes und der höheren Äther; und in allem die stille, beständige Opferfähigkeit, immer zur Verfügung zu stehen. Das karge, kurze aber warme Sprechen, die forschenden, raschen, freilassenden Blicke, die Begeisterung an allem verliessen ihn nicht. Er sah die Menschen an, sachlich, wesentlich, liebevoll, und freute sich an jeder Ûberwindung.

Seit 1973 trug er die Krankheit mit Selbstverständlichkeit. Drei Operationen – bis zum Juni 1980; doch in junger Frische feierte er seinen 75. Geburtstag. Fast alle Patienten waren da. Es war der gütige, segnende Abschied. Als er kaum noch sprechen konnte, hielt er vom 4. bis 7. Oktober noch einen Massage-Kurs. Am 8. Oktober behandelte er noch Patienten. Sein Tod am 14. war ein Willensakt, ein bewusstes, aufrechtes, fromm-ergebenes Schreiten.

 Mitteilungen aus der Anthroposophischen Arbeit in Deutschland, Jahrgang 35, 1981. Heft 1, Nr. 135

 

 

NACHRUF DR. PRESSEL

von Dr. med. dipl. agr. Adalbert Graf von Keyserlingk, 21.5.1981

[leicht überarbeitet]

 

Simeon Johannes Pressel wurde am 15. Juni 1905 als Kind eines Holzkaufmanns und einer österreichischen Mutter geboren. Er hatte drei Schwestern.

An dem Leben seiner Eltern, den Wald für den Menschen durch die Hand der Holzfäller und Holzbearbeiter zu verwandeln, nahm er mit seinem ganzen inneren Aufbau teil.

Nur drei Jahre durfte er am Ort seiner Geburt sein, dann zogen die Eltern in kurzer Folge 33 mal zu anderen Erdenorten der noch jungfräulich bewaldeten Erde Mitteleuropas, bis zum Luganer See und in die Toscana, sodass der Junge erst im 9. Lebensjahr eine Schule besuchen konnte. [Zum Luganer See zog die Familie, um dem gebrechlichen Vater mit viel Sonne und frischer Luft zu helfen, man musste mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges die Schweiz wieder verlassen. Zur Toscana ist keine Auskunft vorhanden.]

Die durch dieses Schicksal in der Kinderzeit erworbene Beziehung zur Erde mit ihren Pflanzen und Tieren durchzog dann nicht nur sein ganzes Leben, sondern auch seine ärztliche Tätigkeit. Und er kam von einer ganz anderen Seite als die meisten Kollegen den Patienten entgegen. Er befruchtete seinen Heilerwillen nicht nur durch das erworbene Wissen, er musste ihn auch durch die Tätigkeit seiner Hände aktiv äussern.

Erst mit 12 Jahren, in der kleinen, privaten Stein-Fichte-Schule in Darmstadt, erfasste ihn die Freude am Lernen wie eine neue Welle – wie er selbst es nannte. Er hatte eine starke Entzündungsbereitschaft und eine zarte Konstitution, aber mit den unverbrauchten intellektuellen Kräften konnte er dann schon mit 17 Jahren ein ausgezeichnetes Abitur ablegen und mit 21 Jahren sein Medizinstudium beenden, das er an den Universitäten München, Würzburg, Kiel und Heidelberg gemacht hatte. Mit 22 Jahren wurde er in Jena Assistentarzt und begründete mit 25, zusammen mit seiner Frau, die auch Ärztin war, in Bayreuth eine Praxis. (Diese Zeitangaben sind in der Kurzbiographie in "Bewegung ist Heilung etwas anders.)

In dieser Zeit kam er über Homöopathie und Naturheilkunde zur Anthroposophie. Seine Frau folgte ihm selbständig auf diesem Wege.

Zu seiner Familie, besonders zu seinem Töchterchen, hatte Simeon Pressel ein inniges Verhältnis. Das Kind war durch einen Impfschaden gehemmt und konnte, wie er sagte, nur lachen, oder weinen, schaute aber doch durch grosse Augen wach in die Welt. Eine wahre Lebensgemeinschaft wurde damals gebildet.

 

Im Jahre 1939, mit 33 ½ Jahren, wurde Pressel eingezogen. Er machte dann, wie die meisten Kollegen, die im Felde standen, alle Schrecken des Krieges durch und erlebte sich dem Tod gegenüberstehend. Nach fast sieben Jahren – einen Monat vor Kriegsende – kam er in russische Gefangenschaft. Deshalb erfuhr er erst ein Jahr später, dass seine Frau mit beiden Kindern bei dem einzigen Fliegerangriff auf Bayreuth im Bunker um das Leben gekommen waren – zur gleichen Zeit, als er in Gefangenschaft kam. Dieser Lebensabschnitt stellte sich in aller Deutlicheit dar.

 

Ein ganz neues Leben, ohne jede Daseinssicherheit, ohne innere Bindungen, begann, ohne dass er sich gegen die brutale Gewalt der feindlichen Umwelt hätte wehren können. Und das Schicksal bereitete ihm nun einen Schulungsweg: Heimatlos, ohne Hoffnungen, eine Nummer unter hunderten von lästigen Gefangenen, kämpfend gegen unvorstellbare Entsagungen, war er ein Nichts im Nichts. Die Lagerinsassen bekamen zeitweise so wenig zu essen, dass sie heruntergefallene Sachen nicht mehr aufhoben, ”um Kalorien zu sparen”. Krankheiten und Sterben der Kameraden verbrauchten die Lebenskräfte. Nur in den alten Mars-Schulungen gab es ähnliche Anforderungen, um die inneren Kräfte des Adepten zu entflammen. So auch bei Pressel. Er erinnerte sich nun, dass er einmal, bei der Massage seines Vaters, etwas wie eine heilende Kraft seiner Hände erlebt hatte und dies dann später, in der eigenen Praxis unter anderem auch angewandt hatte. Jetzt, im Lager, stellte er die starke Wirkung der Massagen bei den Kameraden fest. Er behandelte nun, wurde aber krank. Die Nieren versagten, Ödeme stiegen bis zum Zwerchfell, die Herzaktion war gehemmt. In dieser verzweifelten Lage wurden in ihm die Bewegungen der Eurythmie lebendig und indem er diesen praktisch folgte, konnte er seine eigenen Lebenskräfte wieder aktivieren. So wurde er ganz gesund. Die flammende Begeisterung, die er dabei innerlich erlebte, konnte er nun auch auf die Kameraden übertragen.

So erstanden ihm sechs Helfer, die mit ihm das Lager therapeutisch betreuten und dabei selber so kräftig wurden, dass sie schliesslich zum Arbeitseinsatz abkommandiert wurden. Doch bald hatte er sich neue Helfer herangebildet, die nach und nach ebenso gesund wurden wie er und ihm bei dieser Arbeit helfen konnten.

Die Russen bemerkten dies und seine Bescheidenheit und liessen ihn und sein Köfferchen in Ruhe, sodass er die beiden Hefte, in denen er Aussprüche und Meditationen Rudolf Steiners aufgeschrieben hatte, während dieser ganzen Zeit behalten konnte.

 

Pressel konnte durch seinen inneren Heilermut während der ganzen Lagerzeit Krankheiten ohne alle äusseren Mittel und sogar oft den Tod überwinden. Trotz seiner zarten Gestalt war er gesund und sogar kräftig geworden und deshalb konnte er nach dieser jahrelangen russischen Gefangenschaft, als er entlassen worden war, ohne jede Erholung sofort seine ärztliche Tätigkeit wieder aufnehmen.

Wiederum begann, wie für so viele, nach dem Kriegsende eine neue Periode.

Wenn man sich jetzt diesen Lebensabschnitt so recht vor Augen stellt, wird die Verbindung zum Gralsgeschehen ganz deutlich. Pressel war ”durch Mitleid wissend” geworden und hatte durch die innere energische Tätigkeit, die er sich selbst erweckt und aktiv erhalten hatte, gelernt, diese Geistesmacht auf andere zu übertragen.

Besonders in dieser ersten Nachkriegszeit erlebte Pressel durch eine unglückliche Ehe tiefes Leid. Seine zweite Frau konnte ihm weder auf seinem inneren, noch äusseren Weg folgen. Und nachdem er in Stuttgart fünf Jahre als Lehrer und Schularzt der Waldorfschule unter grossen äusseren und inneren Belastungen gearbeitet hatte, ging er als ”wandernder Schularzt” nach Schweden, Norwegen und Dänemark, um überall dort als Heiler, Lehrer und Berater zu helfen, wo in Schulen und Instituten der Heilpädagogik, oder der Landwirtschaft jemand fehlte. Sein Sprachtalent, das ihm schon in Russland die Wege zum Herzen der Menschen geöffnet hatte, erlaubte ihm, auch hier bald Seminare und Vorträge zu halten und den Menschen das Geisteswissen zu vermitteln.

Nach sieben Jahren des Wanderlebens begann dann in Stuttgart durch die Gründung einer Praxis wiederum ein völlig neuer Lebensabschnitt.

Weihnachten 1958 heiratete er die Holländering Lies van Schouwen, die nach Württemberg gekommen war, um die Hauschka-Massage [heute ”Rhythmische Massage”] zu erlernen.

Nach seinem 56. Jahr konnte Pressel sich in Stuttgart-Sonnenberg fest ansiedeln und mit seiner Frau, einem Sohn und drei Töchtern wieder ein Familienleben führen mit Haus und Garten, mit Tieren, Schwimmen und Musik. Gartenarbeit, Reiten und Geigen waren für ihn Quellen der Kraft. Sein therapeutisches Wissen erweiterte er ständig durch das Studium aller neuen Forschungen und Erfahrungen unserer Kollegen.

Eine besondere Bereicherung therapeutischer Möglichkeiten erfuhr er, als er 1970/71 Frau Werbeck-Svärdström begegnet war, die ja auf Anregung Rudolf Steiners und in Zusammenarbeit mit Dr. Kolisko ein therapeutisches Singen entwickelt hatte. Doch die eigentliche Ratio für sich und sein Wirken empfand Pressel im erlebenden Erkennen der Planetenwirkungen.

Es erscheint nicht nur für Simeon Johannes Pressels Einstellung zu seinen Kursen und Vorträgen überall in Europa, sondern überhaupt für unsere Seminartätigkeit wichtig, einen Brief kennen zu lernen, den er den Teilnehmern eines Massage-Kurses am 11.11. 1978 geschrieben hat:

 Liebe Freunde!

Was wir zusammen erlebt und erübt haben, hat sich jetzt in Freiheit mit Euch verbunden und wirkt weiter. Es war mein Streben, Euch an die ältesten und zukünftigsten Lehrer anzuschliessen: die sieben, die in der Sonne eins sind. Sie mögen Euch weiterführen:

Der Mond: in ewiger Erneuerung - nie Routine,

Merkur: in fröhlicher Anpassungsfähigkeit,

Venus: hingebend-liebevoller Kunst-Sehnsucht,

die Sonne: aus tiefster Ûberzeugung, dass das Kranke dem Geiste am nächsten steht, (Heilpädagogischer Kurs, Ende 4. Vortrag) und in Befruchtung verwandelt werden kann.

Mars: michaelisch-sieghafter Mut zur Begegnung mit dem Widersacher,

Jupiter: dem Bewusstsein, dass alle Rätsel und Probleme Vorstufen der Erkenntnis sind,

Saturn: und in Geistinnigkeit zum Bleibenden werden.

Darin kann eigenes mit unsrer Kranken Karma sich ordnen.

 Aus dieser Einstellung, dass der Arzt die kosmische Wirkung des eigenen Karmas bei der Heilung mit dem des Kranken erlebt, brauchte er nicht auf die konventionelle Medizin zurückgreifen, wenn seine Erkenntnisse nicht ausreichten – und sie weisen ja, das wissen wir alle, in der täglichen Praxis immer wieder Lücken auf – sondern er konnte durch seine heilenden Hände in Massage und Eurythmie dem Patienten doch helfen.

Wenn man Pressel begegnete, kam einem Wärme und Toleranz entgegen, Seelenkräfte, die ich nur als ”brüderlich” bezeichnen kann. Zwischen seinen Patienten und ihm lebte ein Vertrauen, das allein schon als ”liebender Mut” heilend wirkte. Diese lebendig strömende Seelenhaltung befähigte ihn, eine Art diagnostisch-therapeutische Intuition in seine Hände einströmen zu lassen, eine Kraft, die sich dem Lebenswillen der Patienten mitteilte. Wer mit Pressel näher zu tun hatte, erlebte die Wirkung seiner aktiven Meditaion, die nicht nur für ihn und seinen Umkreis sondern für die Welt Bedeutung hat.

Der Verlauf seiner Krankheit ist ein eigener Roman, der sich sehr im Stillen vollzog. Jetzt, in der Rückschau, gewinnt man den Eindruck, dass er mit voller Bewusstheit den Kampf mit dem Doppelgänger und diesem Krankheitswesen aufnahm und Befriedigung erlebte, wenn er ihm etwas abgetrotzt hatte. Er kannte ja alle Möglichkeiten, sowohl der Therapie, wie der Geisteswissenschaft, mit der er sich sein Leben lang so intensiv beschäftigt hat. Er wusste sich umgeben von den heilenden Geistern, die im Jungmedizinerkurs angesprochen werden und fühlte sich in diesem Kampf nie allein. Das hat er selbst zum Ausdruck gebracht. So konnte er auch zuletzt eine nochmalige, weitausgreifende Operation mit innerer Sicherheit ablehnen.

 

In seinem 68. Jahr begann diese Krankheit von sieben Jahren schweren Leidens und kaum vorstellbarer Schmerzen. Drei Operationen über dem Sternum und auf der linken Gesichtsseite verlangten von ihm eisernen Willen, um jeden Tag aufs Neue die Ûberwindung dieser Zeitkrankheit des Cancers zu leisten – wie es ja viele Kollegen tun, die bewusst diesen Kampf antreten.

Während seiner Leidenszeit waren ihm seine Frau und die Kinder eine ihn warm umgebende Hülle, in deren liebevoller Pflege er sich bergen konnte, ebenso wie in der Liebe seines grossen Patientenkreises, die ihm wärmend zuströmte.

Durch ein gnadenvolles Intervall war es möglich, dass Pressel seinen 75. Geburtstag in fast ”jugendlicher Frische” feierte. Vom 4. - 7. Oktober 1980 gab er, obwohl er kaum noch sprechen konnte, noch einen Massagekurs und behandelte sieben Tage vor seinem Tode noch Patienten, obwohl sein Kiefergelenk schon so festgestellt war, dass er keine Nahrung mehr aufnahm. Am 14. Oktober, einem Mars-Tage, starb er im häuslichen Kreis, nachdem die krampfartigen Anfälle des Kiefers vorher aufgehört hatten, als ihm aus dem Johannes-Evangelium vorgelesen worden war.[Johannes Kapitel 14]

Ein Kampf mit dieser Krankheit ist ja für uns alle von besonderer Wichtigkeit für die nächste Inkarnation. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit unserem Freund Löffler, dem Heilpädagogen aus Gerswalde, der mir von einem Gespräch mit Rudolf Steiner berichtete, wo dieser sagte, das Durchmachen eines Cancers sei von besonderer Bedeutung, weil der Mensch sich dabei für sein nächstes Leben eine Art Organ schaffe für das Verstehen und Aufnehmen des Christus.

Wenn wir uns in den Lebenslauf unseres Freundes Pressel vertiefen, dann entsteht der Eindruck, dass dieses Leben ein vom Schicksal gut gegliederter, schwerer Schulungsweg ist, um in der Zukunft – oder auch bald – für besondere Aufgaben vorbereitet zu sein.

 

 

 

AUS EINEM BRIEF VON INGRID VON PILSACH, einer der ersten Schülerinnen von Simeon Pressel

Unterlengenhardt am 11.6.1991

 Liebe Freunde von Simeon Pressel -

... Wenn ich an ihn denke und mir ein Bild von ihm aufbaue, ergeht es mir merkwürdig. Immer fange ich an zu zweifeln, ob seine Augen blau oder braun waren. Denn einmal erscheint die Gestalt hell, gross, wie ausstrahlend, die Augen sind lichtblau, sie lächeln. Ein anderes mal taucht ein dazu ganz kontrastierendes Bild auf. Die Gestalt ist klein, wie zusammengekauert, die Augen ganz dunkel, ein feuchter, tiefer Klang in ihnen verrät den zurückgenommenen Tränenstrom; alle Kraft zentrumgerichtet.

Dieses Erlebnis hatte ich im Kachelofenzimmer bei Frau Stritzel. Wir sassen alle um den Tisch herum und Simeon Pressel versuchte uns Bilder von der Sonnen-Qualität zu geben. Es ist ein unauslöschlicher Eindruck, wie er in tastender Scheuheit vor der Hoheit des Themas ”Sonne” uns einführte; wie er unter der Schwere der Verantwortung um die rechten Worte und vor allem Bilder rang; wie er in ehrfurchtsvoller Stimmung vorsichtig, andeutungsweise in für mich erschütternder Keuschheit von seinem Sonnenaufgangserlebnis in Norwegen uns etwas ahnen liess; wie er den Sonnen-Kern-Satz formulierte, dass das höchste Sonnen-Glücks-Erlebnis immer verbunden ist mit dem tiefsten Schuldgefühl und wie das Schuld-Erleben die tiefsten Willenskräfte auslöst und wie darin die Sonne sich als Schicksalswandlerin offenbart; wie sie den Dialog, den Ausgleich der Gegensätze schafft; wie das ein Weltengesetz sei, dass im Augenblick des höchsten Glückes die Schuld durchbreche und wie man in dem Schuld-Begriff, der Urschuld, etwas von der negativen Substanz, von dem negativen Sonnenraum erleben könne; wie die Selbstlosigkeit als Sonnenqualität sich in dieser Tatsache spiegele. Wie Christus die Schuld der Welt auf sich nahm, in sich hineinnahm und noch immerfort in sich hineinnimmt.

Man spürte und war davon sehr berührt, wie Simeon Pressel das alles nicht nur als Kopfwissen in sich trug – es war alles durch ihn hindurchgegangen.

Das andere Bild erlebte ich als Patientin im kleinen Behandlungszimmer. Die Sonne schien zum Fenster herein und übergoss ihn, der zwischen Massagebett und Schreibtisch stand und etwas erzählte, mit lauter Helligkeit und Freundlichkeit. Rechts an der Wand aus dem Hintergrund sprach der Spruch: ”Das Geistes-Liebe-Licht

das überschattend dich

zu freiem Handeln mahnt, ...”

seine Sprache dazu.

Das alles wirkte von Aussen auf mich; in meinen Waden, die grade wunderbar durchgearbeitet worden waren, wirkte es von Innen.

Diese beiden ”Momentaufnahmen”sind noch heute nach vielen Jahren ganz lebendig mir vor Augen. Sie sind mir selber zum Ausdruck von Sonnenqualitäten geworden, von den zwei Qualitäten, die im Sonnensymbol zum Ausdruck kommen, im Punkt und Umkreis und den fortwährenden Verwandlungs- und Umstülpungsprozessen in der Betätigung dieser beiden Kraftrichtungen. In dem einen Bild viel äussere Sonne, im anderen viel innere Sonne.

Weil Simeon Pressel immer gesagt hat:” ...nicht ich will euer Lehrer sein, sondern ich will euch anschliessen an die grossen Lehrer da oben ...” möchte ich zum Schluss noch eine Passage von Rudolf Steiner über die Planetensiegel aufschreiben. Sie sind für mich eine reale Anknüpfungsmöglichkeit geworden, ein Quell, aus dem man für´s Massagetun immer wieder neu gespeist werden kann.

Rudolf Steiner: ”Und nehmen wir an, wir richten das physische Auge auf irgend eine dieser Figuren: da ist es nicht bloss das physische Auge, sondern es ist die ganze Organisation, vor allem sind es auch die Strömungen des Ätherleibes, die in einer ganz bestimmten Weise in Bewegung kommen, angeregt durch den Verlauf der Linien und durch die Formen dieser Figuren, sodass der Ätherleib andere Bewegungen in sich hat, je nachdem man die eine oder andere dieser Figuren ansieht. Das bedeutet, dass innerhalb der Welt der ätherischen Substanz, die uns umgibt, mit all den Wesenheiten, die darin zunächst verkörpert sind, die Formen, die wir hier nachzeichnen, wirklich vorhanden sind. Es gibt Wesenheiten, die diese Formen wirklich haben in der ätherischen Welt; und indem wir eine dieser Figuren anschauen, richtet sich unser Ätherleib so ein, dass er in seinen eigenen Bewegungen Formen nach den Linien selbst bildet, das heisst eine Gedankenform erzeugt, die nun von ihm ausgeht; und je nach der Gedankenform wird unser ätherischer Leib imstande sein, mit der einen oder anderen Art von Wesenheiten sich in eine reale Verbindung zu setzen.

Diese Figuren sind die Mittler, indem wir veranlasst werden, in uns selbst die Gedankenformen, das heisst die Bewegungsformen in unserem Ätherleib zu bilden. Nun sind diese Figuren so gewählt, dass sie in einer rhythmischen Aufeinanderfolge etwas Ganzes ergeben, dasjenige nämlich, was einer gewissen Entwicklungsströmung in der ätherischen Aussenwelt entspricht, und zwar einer solchen, die in unserem Ätherleib durch eine ganz bestimmte Tatsache günstig ist. Unser Ätherleib hat in sich selbst die Tendenz, sich zu verändern; er wird in gewisser Weise anders, wenn er vollkommener wird. Die Aufeinanderfolge der Formierungen, die dem Vollkommenerwerden unseres ätherischen Leibes entsprechen, wird in der Aufeinanderfolge dieser Figuren sich vollziehen. Wenn wir den okkulten Tatsachen entsprechend solche symbolische Figuren anbringen und tiefer den Blick schweifen lassen können, so ist uns das eine Hilfe für das was wir wollen ...”

 

 

 

MASSAGE UND GESPRÄCH

von Martin Bacher, Nellmersbach 1986

 Biographische Notiz: Durch den Arzt Dr. Pressel durfte der Verfasser die Massage kennenlernen. In diesem Kennenlernen sind ihm einige Zusammenhänge zwischen Verlauf einer Massage und Verlauf eines Gespräches deutlicher geworden. Dadurch, dass man die Vorgänge in der Massage sinnlich-physisch greifen kann ist es möglich sich die Seelenvorgänge konkreter vorzustellen, sie entsprechend zu gestalten. Der Verfasser praktiziert die Massage seit Jahren an einigen Angehörigen.

Ablauf einer Massage: z.B. Massage der Waden

Bevor die Massage beginnen kann, muss der Patient gut warm sein. Der Ûberschuss an Wärme ist das Kapital, womit der Masseur arbeiten kann. Bei den ersten Massagegriffen wird der Patient in seiner individuellen Körperlichkeit wahrgenommen.

Wie kalt, wie warm sind die Körperpartien?

Wie fühlt sich die Haut an usw. Rötet sich die Haut schnell oder schwer? Dazu werden die zu behandelnden Körperpartien erst gebürstet, umhüllend eingeölt und gründlich mit den Händen ertastet. Der Patient soll in den Händen des Masseurs etwas angenehm streichendes, umhüllendes, ergreifendes, durchwärmendes erleben.

Langsam arbeitet sich der Masseur tiefer in die gesamte Landschaft des Muskelgewebes hinein. Dabei ist wichtig, dass der Masseur bei jedem Massagegriff mit Bewusstsein dabei ist, sich intensiv und lebendig rhythmisch in das gesamte Körpergeschehen hineinarbeitet.

 

Gefahren sind:

- dass das Bewusstsein nicht genügend in den Händen ist

- die Griffe nicht intensiv genug ineinandergehen, tiefer gehen

- zu schnell, zu langsam die Bewegungen ablaufen

- zu mechanisch anstatt rhythmisch lebendig massiert wird.

Zwischen der lastenden Schwere und der oberflächlichen Leichtigkeit muss sich der Masseur mit seinen Griffen hindurchfinden. Durch den ständigen Wechsel der Griffe, die innere Beweglichkeit die sich bis in den Händen äussert, kann der Masseur dem Bewegungsgeschehen im Körper des Patienten begegnen, es harmonisieren und bearbeiten.

 

Kommt der Masseur in diesem Sinne an das Bewegungsgeschehen beim Patienten heran, eröffnen sich ihm ganze Landschaften im körperlichen Geschehen. Verhärtungen, Verkrampfungen in der vielfältigsten Zusammensetzung, schlaffes, undurchlebtes in den verschiedensten Spielarten.

Durch die jahrzehntelange Massageforschung von Dr. Pressel hat sich z. B. empirisch herausgestellt:
Die linke Wade hängt stärker mit dem ganzen Stoffwechselgeschehen (Magen, Darm u.ä.) zusammen. Die rechte Wade hat eine stärkere Beziehung zum rhythmischen System (Herz, Lunge u.ä.) des ganzen Menschen. Beides greift ineinander, weil der Stoffwechsel mit dem rhythmischen System zusammenhängt.

 

In der Regel fühlt sich die ”Stoffwechselwade” viel fester an. Der Patient ist oft nicht so empfindlich gegen den Druck der Hände, wie z. B. beim Massieren an der rechten Wade (rhythmisches System). Versucht nun der Masseur eine Verhärtung auf die er in der Stoffwechselwade trifft und die mit einer Darmträgheit einhergeht zu direkt anzugreifen, kann es sein, dass die Verhärtung eher verstärkt als gelöst wird. (Vergleiche Bewegung ist Heilung, Stuttgart 1984, S. 32-35)

Der Patient erlebt das Bemühen des Masseurs mit festen Griffen die Verhärtung zu lösen, als sehr unangenehm.

Geschieht der gleiche Angriff – nach vielen Behandlungen wo man das individuelle Reaktionsvermögen und körperliche Geschehen kennengelernt hat – aus dem ganzen intensiven Hineinarbeiten in den Patienten, wie oben beschrieben und ist es reif, dass jetzt die Verhärtung in Bewegung gebracht werden kann, wird unter Umständen eine tief im Organismus verwurzelte Stoffwechselstörung anfänglich aufgelöst und in Bewegung gebracht.

Dieses wache intensive Miterleben mit dem Geschehen beim Patienten ist die Voraussetzung um im richtigen Moment mit vollem Einsatz beim Patienten auch einmal einen Durchbruch zu erreichen. Das kann aber nur geschehen, wenn man voll wach mit dem Geschehen mitgeht. Lässt man den Augenblick unbemerkt vorbeigehen, kann es sein, dass man wieder lange warten muss, um auf eine so günstige Konstellation zu treffen.

So ist es die Kunst des Masseurs, mit der Gesamtkomposition seiner Massage dem Bewegungsgeschehen im Patienten so intensiv wie möglich entgegenzukommen. Damit werden Verhärtungen und Verkrampfungen gelöst, was sich z.B. in einem aktiveren Stoffwechselgeschehen beim Patienten zeigt.

Schlaffes, lebsloses wird wieder besser durchflutet und durchlebt, was zu einem gesteigerten Wohlbefinden beim Patienten führt.

Das Beschriebene kann nur erfolgen, wenn der Masseur ein intensives Bewusstsein und Erinnerungsvermögen von dem Geschehen im Patienten hat.

Was verändert sich beim Patienten während der Massage?

Wie reagiert er auf die Massage (z.B. auch nach der nächsten Nacht)

Was verändert sich zwischen den Behandlungen?

Welchen beruflichen, sonstigen Belastungen ist der Patient ausgesetzt?

Wie reagiert sein Organismus auf diese Belastungen? Usw.

Nur durch dieses richtige Erinnerungsvermögen kann er zielvoll an den auftretenden Prozessen im Patienten ansetzen, um sie weiterzubringen und dem Patienten in seiner körperlichen Entwicklung zu helfen.

 

Was hat nun das unter der Massage Beschriebene mit der Gesprächsführung zu tun?

Wirken in einem Gespräch nicht die gleichen Kräfte, Qualitäten wie oben beschrieben?

Ermöglichen nicht die gleichen Kräfte und Qualitäten wenn sie im Gesräch anwesend sind, Schritte in der seelisch geistigen Entwicklung der Gesprächspartner?

Die Bedeutung der Athmosphäre zu Beginn eines Gespräches, die erste Wahrnehmung, was kommt wirklich von einem Menschen zum anderen herüber und hinüber, diese Vorgänge sind oft genug beschrieben worden.

An der Physiognomie, an der Gestik, Mimik und Sprechweise versuche ich mir ein Bild von meinem Gesprächspartner zu machen: ”Sprich, damit ich dich sehe”, sagten die Griechen.

 

Wie ich in der Massage die physische Landschaft mir langsam erschlossen habe, geht es darum sich im Gespräch die Seelenlandschaft des anderen Menschen zu erschliessen.

Wo steht der Gesprächspartner in seinen Anschauungen?

Wo ist der Gesprächspartner emfindlich?

Wo ist er offen, wo wirkt er verschlossen?

Geben seine Äusserungen ein in sich stimmiges Bild?

Wo erlebe ich Diskrepanzen? Zwischen den einzelnen Äusserungen?

Wo sehe ich Ansätze zu einer Veränderung dieser Anschauungen?

Ich werde einige Zeit mit dem Gesprächspartner sehr aufmerksam im Gespräch verbleiben müssen, um ein vollständigeres Bild von seiner Situation zu bekommen. Trage ich zu schnell mein Eigenes in das Gespräch hinein, wird sich der Andere eher zurückziehen, sich verschliessen.

Die Zuwendung im Gespräch schwankt zwischen Teilnahmslosigkeit, Unaufmerksamkeit und und so in die Leiden des anderen hineingezogen werden, dass man sich selbst am Mitleiden seelisch verletzt.

Zwischen diesen Polaritäten gilt es die Mitte zu halten.

Wichtig ist:

Wie aufmerksam gehe ich auf die Äusserungen meines Gesprächspartners ein?

Nimmt der Gesprächspartner meine Anteilnahme und Zuwendung wahr, hilft sie ihm, sich zu öffnen?

Hat er das Gefühl, ich bleibe mit meinem Interesse bei ihm?
Wie gelingt es mir durch Fragen und aktive Gesprächsgestaltung ein immer klareres Bild des Geschehens zu erarbeiten?

 

Allein durch diese Haltungen können sich im Gesprächspartner Einsichten aussprechen, die er bisher so noch nicht geäussert hat. Es können Verhärtungen im Seelenleben aufgewärmt und durchlichtet werden. Halbbewusstes, unbewusstes was sich disharmonisch in die bewussten Äusserungen der Persönlichkeit hineinschiebt kann in seinen störenden Wirkungen erkannt, an einer besseren Beherrrschung dieser Vorgänge gearbeitet werden. Neben dem Leidvollen der Schicksalsvorgänge können sie auch immer mehr in ihren positiven Aspekten für das individuelle Entwicklungsgeschehen sichbar werden.

 

Sowohl im Einzel- wie im Gruppengespräch kann es gelingen, durch diese Art der Gesprächsführung, Enttäuschungen die zu Verhärtungen im Seelenleben geführt haben aufzulockern.

Hat sich durch die Gespräche eine positive, vertauensvolle Grundhaltung zueinander gefestigt, können auch tieferliegende Widersprüche im anderen Menschen aufgezeigt werden.

Hier kommt es wieder darauf an, mich im richtigen Moment mit vollem Einsatz zu engagieren, um den Anderen mit sich selbst in der richtigen Weise zu konfrontieren. Das kann nur ganz aus dem Erleben des Anderen geschehen.

Dadurch kann vielleicht etwas in Bewegung gebracht werden, was schon jahrelang entwicklungshemmend wirkt und was durch das Gespräch so bewegt wird, dass es sich nicht mehr störend der Entwicklung entgegenstellen kann.

Durch mein Gesamtverhalten als Gesprächspartner und durch die Komposition meiner Vorgehensweise im Gespräch, können in dem Gesprächspartner Kräfte verstärkt werden, dass er aus sich die nächsten Schritte in seiner Entwicklung finden kann.

Wieder braucht man dauernd die Kraft des Erinnerungsvermögens um die vielen Einzelgschehnisse in brauchbare Bilder zu bringen, um mit ihnen in dem oft dramatischen Entwicklungsgeschehen bestehen zu können.

Was verändert sich beim Gesprächspartner im Gespräch?

Wie reagiert er auf Einwürfe?

Wie gelingt es ihm Anregungen aus den Gesprächen dauerhaft zu verarbeiten?

Wird das im Gespräch Erreichte durch die Belastung im Beruf, in der Familie wieder eliminiert?

Die beschriebenen Vorgänge gelten sowohl für das Einzel- wie das Gruppengespräch.

 

Literatur: Rogers: Das non-direktive Gespräch

Carkhuf: Die sechs Kategorien des Gesprächs

Athys Floride: Die Begegnung als Aufwacherlebnis

Simeon Pressel: Bewegung ist Heilung, besonders Seite 24-37