Wie oben angedeutet ist die Massagebewegung nach Simeon Pressels Weggang in zwei Ströme aufgeteilt worden, die sich zunächst fast völlig aus den Augen verloren haben und sogar zu Gegensätzlichkeiten geführt haben. Lies Pressel sammelte jährlich ihre Schüler zu einem Massagetreffen am Quellhof. Werthmanns organisierten, auch jährlich, Massagetreffen auf der Schwäbischen Alb und später in Kassel. Dadurch konnten manche Masseure eine Zusammenarbeit erleben. Die Zentrifugalbewegung herrschte jedoch vor in diesen Jahren. Etwa 1998 wurde eine Begegnung zwischen Lies Pressel und Gretl Stritzel versucht, mit Hilfe von Moderatoren. Die beiden Frauen litten darunter, dass es ihnen zu Lebzeiten nicht gelang, ihre Gegensätze zu überbrücken.
Ab 2007 haben Lies Pressel und Dorothea Friemel einen neuen Versuch unternommen, sich zum Dialog zu begegnen, Gemeinsames und Differenzen zu klären und an einer fruchtbaren Weiterentwicklung zu arbeiten. Moderiert haben zunächst Elma und Jülia Pressel. Dann traf sich diese kleine Gruppe 2012 mit Dr. med. Michaela Glöckler am Goetheanum/Schweiz, was zu einer deutlichen Aufgabe führte, die Geschichte der Bewegung (mündlich und schriftlich) aufzuarbeiten, und für die deutschen Kollegen einen Berufsverband zu gründen.
Die Aufarbeitung der Geschichte ist weitgehend geklärt durch die einjährigen Treffen, bei denen allmählich auch neue Teilnehmer hinzukamen.
Elma Pressel arbeitet als Koordinatorin für die Körpertherapien am Goetheanum seit 2013 im Zentrum des Geschehens, das anthroposophische Therapien gemeinschaftlich, international verbindend, deutlich für das Umfeld und freiheitlich für die Ausübenden gestalten will.
Am 17.5. 2014 wurde der Berufsverband für Massage nach Dr. med. Simeon Pressel e.V. gegründet, mit Sitz in Kassel.
Bei Tagungen am Goetheanum haben in den letzten Jahren wiederholt Masseure kollegiales Arbeiten in vergleichenden Arbeitsgruppen geübt und demonstriert, wo Therapeuten innerhalb der Massage nach Simeon Pressel zusammenkamen, aber auch mit anderen Therapierichtungen zusammen arbeiteten.
Jülia Pressel hat Patienten und Kursteilnehmer aus Simeon Pressels Tagen aufgesucht und befragt über ihre Erinnerungen und Eindrücke. Sie hat schriftlich festgehalten, was Menschen ausgesagt haben über Simeon Pressel als Mensch, Arzt, Therapeut, Masseur und Lehrer.
Am 14.9. 2017 wurde die Massage nach Dr. Simeon Pressel durch die Medizinische Sektion am Goetheanum als anthroposophische Therapiemetode anerkannt.
Ein Verzeichnis der Masseure, mit deren Emailadressen und Wohnorten, wird aufgebaut.
Die jährlichen Massagetreffen haben inzwischen eine gemeinsame Planung, sodass man sich im einen Jahr in Kassel, Berlin oder Loheland, im anderen Jahr am Quellhof trifft für ein Wochenende der Weiterbildung, Begegnung und Inspiration. Die Masseure der verschiedenen Schulen nehmen hier einander immer mehr wahr und lernen aneinander.
Ein Verantwortungskreis von etwa zwölf Teilnehmern ist entstanden, auch mit Vertretern der verschiedenen Schulen. Unter der Moderation durch Simeon Pressels Neffen, dem Unternehmensberater Martin Bacher, hat dieser Kreis ein Leitbild für die Massagebewegung entworfen, das heute von allen Masseuren, die per Internet zu erreichen sind und/oder zum Jahrestreffen kommen, gemeinsam erarbeitet wird (siehe nächste Seite).
Der Verantwortungskreis hat sich 2018 daran gemacht, unter der Moderation durch Thorsten Hartmann ein Methodenhandbuch und ein Rahmencurricculum für die Fortbildung in der Massage nach Simeon Pressel zu erarbeiten, das international und von allen Schulen akzeptiert sein kann und der Fortbildung einen verbindlichen Rahmen geben soll, bei grösst möglicher Freiheit für die verschiedenen Lehrer. Die neueste Version ist aus Mai 2025. Diese Arbeit zeigt im Laufe der Zeit, wie ein starker gemeinsamer Geist zu einem heilenden Zusammenwachsen dieser Massagebewegung führen will, und den Beteiligten eine überraschende Freude am Zusammenarbeiten bereitet. Hoffnung für die Zukunft spricht sich hierin aus.
Im März 2023 hat die WHO, nach etlichen Jahren der Vorbereitung, die Fortbildungskriterien der anthroposophischen Therapien der Medizinischen Sektion am Goetheanum anerkannt, also auch der Massage nach Dr. S. Pressel. Dieser Meilenstein bedeutet für manche Menschen auf nicht-europäischen Kontinenten, dass sie seither leichter zB. mit dieser Massage arbeiten können. Für Andere ist diese Verbindung mit der WHO ein ausgesprochen kontroversieller Faktor, eine Eigentor der Medizinischen Sektion.
Ein anderer komplizierter Aspekt der Weiterentwicklung dieser Massage ist die Tatsache, dass in den letzten etwa fünfzehn Jahren immer weniger Menschen die Möglichkeit finden, diese Therapie oder Pflegeform zu erlernen (zB. aus finanziellen Gründen, Zeitmangel, Kräftemangel), oder nicht einmal das Interesse dazu haben. Dies trifft in erster Linie zu für Mitteleuropa, während in Ungarn, Lateinamerika und Thailand durchaus ein Zuwachs an neuen Masseuren zu erleben ist. Aber in Deutschland, der Schweiz und in Österreich, in Polen, Frankreich und Skandinavien gibt es wenige oder gar keine Kurse. Meines Erachtens liegt dem die intensive Verstärkung des Neoliberalismus zugrunde, der seit der Wirtschaftskrise 2008 sich in allen Gebieten der Zivilgesellschaft ausbreitet, die Lebensumstände auf prekäre Weise prägt, unseren Bewegungsradius einschränkt, unser Bewusstsein auf ein Tunnelsehen begrenzen und uns auf einen Durchhalte-Modus zwingen will. Es wird immer schwieriger, Zeit und Ruhe zu finden für tiefgehende Therapieprozesse oder langwierige Kurse. Es mag auch positiv zu werten sein, dass es immer mehr Werkzeuge und Motivation gibt, sich selber zu behandeln / gesund zu erhalten. Dennoch erleben Viele, wie sich das Dasein immer mehr zuspitzt. Jeder kann Beispiele hierfür geben, nicht zuletzt aus den Zeiten der Pandemie und danach. Diese Notlage wird schrittweise eingewöhnt, und plötzlich müssen wir feststellen, dass die Gemeinschaft der nach Simeon Pressel Massierenden immer älter wird, dass immer mehr Mitglieder sterben und recht wenige Neue hinzukommen. Wir können dies als ein Phänomen der geistigen Verarmung auf vielen Gebieten beobachten und es als ein Zeichen dafür sehen, wie Ahriman seine Inkarnation vorbereitet und uns dazu herausfordert, neu zu denken:
Auf der einen Seite haben wir ausgearbeitete Strukturen für Berufstätige, wie sie hier oben in ihrer Entwicklung beschrieben wurden, die einmal in der Zukunft wieder mehr zum Tragen kommen können. Das ist der Königsweg.
Zum Anderen haben wir die Möglichkeit einer Massage-Pflege ohne Ansprüche auf finanzielle Relevanz, und sie kann jederzeit verwirklicht werden wo es den Willen dazu gibt. Hierin liegt ein Freiraum, abseits der wirtschaftlichen Zwänge; etwa so wie Simeon Pressels Massagetätigkeit in der Gefangenschaft. Das ist der Hirtenweg. Es gibt teils die Möglichkeit, als Laie die Kurse mitzumachen, und es gibt teils auch erfahrene Masseure, die ihr Können weitergeben in einfachster Form, von Mensch zu Mensch, so wie auch Simeon Pressel in der Gefangenschaft und später sein Können oft weitergab ohne an Kursprogramme, Qualitätssicherung und Vollständigkeit zu denken, einfach indem er dem Interessierten ein paar heilende Griffe und Aspekte in die Hände, das Herz und das Denken gab. "Goldene Eimer weiterreichen" nannte Dr. Ita Leroi dieses Vorgehen in einem entscheidenden Gespräch mit Gretl Stritzel.
Zum Dritten haben wir aber auch einen Schatz an Inspiration für das tägliche Leben, wo ein Jeder sich bedienen kann: In seinen Aufsätzen hat Simeon Pressel ja kaum über Massage geschrieben, sondern vor allem über alltägliche Lebensthemen, wie zB. Bewegung, Reisen, Sprache, Krankheit im Schicksal, Altern, Angst, Kleidung, und zwar immer im Licht der Anthroposophie gesehen, die er in seinem Leben so tief verinnerlicht hat wie er sie hier poetisch-spielerisch vermittelt. Auch Texte, die hier im Archiv verbreitet werden, atmen diese lebendige, echte, befeuernde Geistigkeit. Das Wort "Hilfe zur Selbsthilfe", wie es Martin Bacher für die Heilkunst nach Pressel und Stritzel prägte (siehe nächste Seite), birgt unendliche Möglichkeiten, frei von den bestehenden äusseren Umständen. Wenn also das Angebot an Therapiemöglichkeiten eher schrumpft und die tägliche Einschränkung uns eher lähmt, so kann hier jeder jederzeit innerlich aktiv werden und heilende Impulse für sein Leben finden. Sie liegen da wie Samen. Das Buch wird im Frühjahr 2026 neu erscheinen, um Einiges erweitert.